Adresse für Korrespondenz:
Prof. Matthias Blüher, Helmholtz-Institut für
Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung (HI-MAG) des
Helmholtz Zentrums München an der Universität Leipzig,
Ph.-Rosenthal-Str. 27 D-04103 Leipzig.
Adipositas – das Zusammenspiel von Genetik, Biologie und Umwelt entschlüsseln
Matthias Blüher, MD
Medizinische Abteilung III – Endokrinologie, Nephrologie, Rheumatologie, Universität Leipzig Medizinisches Zentrum, Deutschland & Helmholtz-Institut für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung (HI-MAG) des Helmholtz Zentrums München an der Universität Leipzig, Deutschland
By Matthias Blüher
Helmholtz Institute for Metabolic, Obesity and Vascular Research (HI-MAG) of the Helmholtz Zentrum München at the University of Leipzig and
University Hospital Leipzig, Leipzig, Germany and
Obesity Center at Medical Department III – Endocrinology, Nephrology, Rheumatology,
University of Leipzig, Leipzig, Germany
Adipositas – eine große gesundheitliche Herausforderung der modernen Gesellschaften
Im vergangenen Jahrhundert haben Forscher und das öffentliche Gesundheitswesen enorme Fortschritte bei der Eindämmung von Infektionskrankheiten gemacht, aber diese Fortschritte werden teilweise durch einen starken Anstieg der Häufigkeit von Herz- und Lungenerkrankungen, Diabetes, lebensstilbedingten Krebsarten und anderen nicht übertragbare Krankheiten zunichte gemacht.1 Einer der Hauptgründe für den Anstieg dieser Krankheiten ist die steigende Prävalenz von Adipositas.
Die Biomedizin definiert Adipositas als übermäßige Fettansammlung, die ein Gesundheitsrisiko darstellt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist die grundlegende Ursache für Adipositas und Übergewicht ein Energieungleichgewicht zwischen aufgenommenen und verbrauchten Kalorien. Weltweit hat sich der Verzehr von energiereichen, fett- und zuckerhaltigen Lebensmitteln erhöht, während körperliche Aktivität und Energieverbrauch abgenommen haben (z. B. durch die sitzende Tätigkeit bei vielen Arbeitsformen, Veränderungen bei Transportmitteln und die zunehmende Verstädterung). Veränderungen in den Ernährungs- und Bewegungsmustern sind häufig das Ergebnis ökologischer und sozialer Veränderungen, die mit der Entwicklung und einem Mangel an unterstützenden Maßnahmen in Sektoren wie Gesundheit, Landwirtschaft, Verkehr, Stadtplanung, Umwelt, Lebensmittelverarbeitung, Vertrieb, Marketing, Kommunikation und Bildung einhergehen.2
Die Ursachen von Adipositas sind komplex
Adipositas sollte als eine chronische Krankheit betrachtet werden, die aus komplexen, systemischen, multikausalen Pathologien oder Problemen herrührt, die in der sitzenden Natur des modernen postindustriellen Lebens verwurzelt sind. Sie kann mit besser verfügbaren und erschwinglicheren Lebensmitteln, Veränderungen in der Ernährung, möglichen Veränderungen des Darmmikrobioms, psychologischen Reizen wie Stress, epigenetischen Auslösern und Störungen des physiologischen inneren Milieus verknüpft werden. Adipositas ist als Krankheit, die Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status und insbesondere Frauen betrifft, auch eine Verkörperung sozialer und gesundheitlicher Ungleichheiten und erfordert daher Ansätze, die für alle zugänglich sind und die Betroffenen stärken. Um die Behandlung und Prävention von Adipositas zu verbessern, ist ein besseres Verständnis der Ursachen von Adipositas dringend erforderlich.
Forscher aus der Biomedizin und den Sozial- und Geisteswissenschaften befassen sich eingehend mit den relevanten Dimensionen und potenziellen Lösungen für die schnell wachsende Adipositas-Epidemie. Obwohl wir zunehmend verstehen, wie das Verlangen nach Nahrung im Gehirn von Personen mit Adipositas gestört ist, wie Hormone aus Darm und Fettgewebe Appetit und Sättigung im Hypothalamus regulieren oder wie eine Fettgewebe-Dysfunktion sekundäre Gesundheitsprobleme verursacht, sind wir bis heute nicht in der Lage, dieses Wissen in Präventionsstrategien auf gesellschaftlicher Ebene umzusetzen.
Doch auch wenn es keinen Zweifel daran gibt, dass die grundlegende Ursache von Adipositas ein langfristiges Energieungleichgewicht zwischen zu vielen aufgenommenen Kalorien und zu wenigen verbrauchten Kalorien ist: die Faktoren, die zu übermäßigem Essen und Bewegungsmangel beitragen, sind komplex. Die enorme Komplexität der kausalen Beziehungen, die für Adipositas relevant sind, wurde in der Adipositas-Systemkarte zusammengestellt.3
Adipositas ist ein vererbbares Merkmal
Die Schlüsselrolle bestimmter Hirnregionen bei der Regulierung des Körpergewichts wurde durch die Beobachtung deutlich, dass Tiere mit Läsionen und Menschen mit Tumoren, die den Hypothalamus betreffen, ein abnormales Nahrungssuchverhalten und Adipositas entwickeln.4,5 Mit der Feststellung, dass eine Mutation im ob-Gen (die das Fettgewebehormon Leptin kodiert)6 bei ob/ob-Mäusen7 , Eine schwere Asipositas veursacht, wurde offensichtlich, dass zentrale neuronale Schaltkreise, die die Energiehomöostase steuern, Signale aus peripheren Geweben, wie Fettgewebe8, integrieren, was die zahlreichen biologischen Einflüsse verdeutlicht, die dabei eine Rolle spielen.
Darüber hinaus deuten Beobachtungen aus Zwillings- und Adoptionsstudien9,10 darauf hin, dass Adipositas eine vererbte Störung der Energiehomöostase sein könnte. Die Vererbbarkeit des BMI wird auf 40–70 % geschätzt.11,12 Tatsächlich unterstreichen Entdeckungen, dass Mutationen in Genen, die eine zentrale Rolle bei der Regulierung der Energiehomöostase13–17 spielen, schwere Adipositas beim Menschen verursachen können, die Bedeutung biologischer Faktoren bei der Pathogenese von Adipositas. Andererseits sind monogenetische Ursachen für Adipositas selten und können das Ausmaß der Adipositas-Pandemie nicht erklären. Darüber hinaus wurde in genomweiten Assoziationsstudien (GWAS) herausgefunden, dass nur ~2 % der BMI-Variabilität durch gemeinsame einzelne genetische Variationen erklärt werden können.18 Es ist klar, dass Veränderungen in der Bevölkerungsgenetik den Anstieg der Adipositasprävalenz in nur 40 Jahren nicht erklären können.
Tatsächlich könnte ein Großteil der BMI-Variabilität auf Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt oder Genen und Verhalten zurückzuführen sein, auch in der vorgeburtlichen Umgebung. Interessanterweise kann die mütterliche Ernährung während der Schwangerschaft DNA-Methylierungsmuster beeinflussen, die bei den Nachkommen über Jahrzehnte bestehen bleiben und sogar an zukünftige Generationen vererbt werden können.19
Die sozialen, ökologischen und biologischen Faktoren, die zur
Adipositas beitragen, sind extrem komplex und noch schwieriger zu
entschlüsseln. Während genetische Faktoren und biologische
Mechanismen, die an der Regulierung des Körpergewichts beteiligt sind,
unbestreitbar sind, trägt die sitzende Lebensweise der modernen Zeit –
in Kombination mit den extremen ökologischen und sozialen
Veränderungen des letzten Jahrhunderts – weiterhin zur
Adipositas-Pandemie bei, was wiederum die Inzidenz von Herz- und
Lungenerkrankungen, Diabetes, lebensstilbedingten Krebserkrankungen
und anderen nicht übertragbaren Krankheiten beschleunigt. Um die
Behandlung und Vorbeugung von Adipositas zu verbessern, müssen wir
dringend auf ein besseres Verständnis der Ursachen von Adipositas in
allen Aspekten der Gesellschaft und der adipogenen Umwelt
hinarbeiten.
Literaturhinweise
1. Dobbs R, Sawers C, Thompson F, et al. Overcoming obesity: An initial economic analysis. McKinsey Global Institute 2014.
2. Swinburn BA, Sacks G, Hall K, et al. The global obesity pandemic: Shaped by global drivers and local environments. Lancet. 2011; 378:804–814.
3. UK Foresight Programme 2007. Verfügbar unter: https://www.gov.uk/government/publications/reducing-obesity-obesity-system-map. Letzter Zugriff: Oktober 2021.
4. Farooqi IS. Defining the neural basis of appetite and obesity: from genes to behaviour. Clin Med (Lond). 2014; 14:286–289.
5. Anand BK und Brobeck JR. Hypothalamic control of food intake in rats and cats. Yale J Biol Med. 1951; 24:123–140.
6. Zhang Y, Proenca R, Maffei M, et al. Positional cloning of the mouse obese gene and its human homologue. Nature. 1994; 372:425–432.
7. Coleman DL und Hummel KP. Effects of parabiosis of normal with genetically diabetic mice. Am J Physiol. 1969; 217:1298–1304.
8. Farooqi IS und O'Rahilly S. 20 years of leptin: human disorders of leptin action. J Endocrinol. 2014; 223:T63–70.
9. Börjeson M. The aetiology of obesity in children. A study of 101 twin pairs. Acta Paediatr Scand. 1976; 65:279–287.
10. Stunkard AJ, Harris JR, Pedersen NL, et al. The body-mass index of twins who have been reared apart. N Engl J Med. 1990; 322:1483–1487.
11. Montague CT, Farooqi IS, Whitehead JP, et al. Congenital leptin deficiency is associated with severe early-onset obesity in humans. Nature. 1997; 387:903–908.
12. Loos R. Recent progress in the genetics of common obesity. Br J Clin Pharmacol 2009; 68:811–829.
13. Clément K, Vaisse C, Lahlou N, et al. A mutation in the human leptin receptor gene causes obesity and pituitary dysfunction. Nature. 1998; 392:398–401.
14. Farooqi IS, Yeo G, Keogh J, et al. Dominant and recessive inheritance of morbid obesity associated with melanocortin 4 receptor deficiency. J Clin Invest. 2000; 106:271–279.
15. Krude H, Biebermann H, Luck W, et al. Severe early-onset obesity, adrenal insufficiency and red hair pigmentation caused by POMC mutations in humans. Nat Genet. 1998; 19:155–157.
16. Hebebrand J, Volckmar, A-L, Knoll N, et al. Chipping away the 'missing heritability': GIANT steps forward in the molecular elucidation of obesity - but still lots to go. Obes Facts. 2010; 3:294–303.
17. Speliotes EK, Willer C, Berndt S, et al. Association analyses of 249,796 individuals reveal 18 new loci associated with body mass index. Nat Genet. 2010; 42:937–948.
18. Panzeri I and Pospisilik JA. Epigenetic control of variation and stochasticity in metabolic disease. Mol Metab. 2018; 14:26–38.
DE22SX00044, Genehmigungsdatum: März 2022
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